Vor meinem inneren Auge schreibe ich nach mehr als 10 Stunden Zugfahrt das Ticket für die Fähre von Brindisi nach Vlora ab. Wegen massiver Verspätung kaufe ich mir spontan online ein Ticket für das Schiff nach Durres und steige bereits in Bari aus.
Ein erster Vorgeschmack, was mich in Sachen Akzeptanz staatlicher (Corona-)Massnahmen in Albanien erwartet, erhalte ich an Bord. Das Personal trägt die Maske auf Halbmast; von den Gästen trägt sie ungefähr jede(r) Zehnte.* Ähnlich rar sind auf dem Schiff vegetarische Speisen. Ich entscheide mich für die einzige Ausnahme neben rohen Teigwaren, das Okra-Gericht. Fleisch und Fisch werde ich in Albanien noch zur Genüge kriegen, sagt eine innere Stimme. Ich würge das verkochte und fade Essen runter, kaufe mir ein paar Süssigkeiten im Shop und mache mich auf den Weg in meine kleine Kabine. Draussen im Hafen von Bari bricht bereits die Dunkelheit ein und auf Deck diskutieren albanische Männer in einer mir unverständlichen Sprache lauthals über Gott und die Welt. Auf jedem Tisch steht eine Flasche Wein und Wasser. Die meisten Leute haben ihr Essen selbst mitgebracht. Der Grund liegt auf der Hand. Rückblickend wird mir klar, dass in so mancher Pet-Wasser-Flasche wohl eine andere transparente Flüssigkeit abgefüllt ist: Raki.
Der Hafen von Bari.
Ohne Bargeld kein Auto
Ein energisches Klopfen an der Tür reisst mich aus dem Schlaf. Jemand schliesst die Tür auf und ruft mir zu, ich solle mich sofort bereit machen. Wir erreichten den Hafen von Durres.
Transparente Verkaufsverhandlung.
Über eine lange Fussgängerbrücke laufe ich vom Hafen in die Stadt zur ersten Bar, die mir ins Auge sticht und gönne mir einen Espresso für 70 Rappen und kostenloses WLAN. Ich entscheide mich für einen lokalen Autoverleih mit guten Bewertungen auf Google. Die erste Herausforderung: die 450 Euro aufzutreiben, um den Wagen zu bezahlen. Denn der Mann am Verleih weist mich freundlich darauf hin, dass er nur Bargeld akzeptiere. Als Rechengrundlage dient vielen Albaner*innen im Kontakt mit Touristen der Euro. Dieser wird im September 2021 mit einem Wechselkurs von 120 bis 123 multipliziert, je nach Person und deren Tagesstimmung - oder ist es der aktuelle Tageskurs? Der vierte Bargeldautomat, den ich in Durres finden kann, ist der erste, der funktioniert. Gegen eine Gebühr von 800 Lek (circa 7 Franken!) halte ich meinen ersten Bündel an albanischen Banknoten in der Hand. Wenig später sitze ich in meinem Toyota Yaris, der mich die nächsten Wochen begleiten wird. Der Vertrag, den ich unterschrieben habe umfasst auf Albanisch 12 Punkte. In der englischen Übersetzung sind es deren 10.
Ok, Google, aber nur mit 4x4.
Die Grenzen von Google Maps finden sich in Albanien
Nach dreieinhalb Stunden Fahrt auf überraschend guten Strassen, durch Berg und Tal und mit atemberaubender Sicht aufs Mittelmeer führt mich Google Maps erstmals auf einen Schotter-Weg. Ich beginne zu zweifeln, ob ich auf dem richtigen Pfad bin. Wenig später sehe ich die Rückseite des Hotels vor mir. Ein Zaun versperrt mir den Weg. Ein Mitarbeiter eilt mir zu Hilfe und räumt das Hindernis zur Seite. Er habe keine Ahnung, warum Google Maps immer wieder Leute auf diesem Weg zu ihnen führe. Schliesslich hätten sie vor einigen Jahren eine geteerte Strasse gebaut, die von der Hauptstrasse direkt zum Hotel führt. Das Auto-Fahren wird mit Google Maps als Navigation in Albanien zum Abenteuer. Ob der Weg ans Ziel neu asphaltiert oder nur mit 4x4 passierbar ist, lässt sich nur durch die Zeitangabe im Vergleich zur Entfernung abschätzen. Manchmal werden Strassen angezeigt, die nicht existieren. Andere wiederum kennt Google Maps gar nicht.
Italienisch und Smartphonisch
Das Gespräch mit der Gastgeberin wird zum Sinnbild für eine Art von Gesprächen, die ich in Albanien nun öfters führen werde. Sie spricht neben Albanisch nur Italienisch - wie viele Albaner*innen an der Küste. Ich kommuniziere mit ihr mit Händen und Füssen und in der Sprache, die ich in der achten und neunten Klasse jeweils in der grossen Pause vor dem Unterricht im Schnelldurchlauf gebüffelt habe. Die Pausen zwischen den Sätzen werden grösser, je tiefer wir in ein bestimmtes Thema eintauchen. Zwischen uns: ein Smartphone mit Google Translator. Trotzdem klappt die Kommunikation mit ein bisschen Geduld erstaunlich gut. Nach dem Gespräch weiss ich, wo ich überall nicht Essen gehen soll, da sie keine Kühlschränke hätten, um den Fisch zu kühlen. Ich weiss, dass brennender Kaffee gegen Wespen hilft und dass die nette Frau in zwei Tagen für eine Operation an ihrer Hand über Tirana nach Venedig fliegt. Ich kann deshalb nicht länger als zwei Tage dort bleiben.
Auszug aus einem computergestützten Gespräch aus Albanien
Der Garten des Hotels Artisti in Rrhadime.
Xhiro - eine albanische Tradition
Viel zu entdecken gibt es in Radhïme nicht. Ein paar schicke kleine Strände mit Liegestühlen und Bars laden zum Baden ein. Wenige Kilometer nördlich lohnt sich ein Spaziergang an der frisch mit EU-Geldern renovierten Promenade der Küstenstadt Vlora. Am frühen Abend treffen sich dort hunderte von albanische Familien, herausgeputzt und in ihren Sonntags-Kleidern zum Xhiro und flanieren der Uferpromenade entlang. Xhiro ist eine albanische Tradition, bei der sich Freunde und Familien zum Spazieren an einem zentralen Ort treffen und sich über Klatsch und Tratsch, Gott und die Welt austauschen. Was es mit dieser Tradition auf sich hat und wie sie entstanden ist, versucht James Leithart in seinem Youtube-Beitrag zu ergründen.
Reise-Tipps aus dem Kosovo
Mit einem Kosovaren, dem einzigen weiteren Gast im Hotel, funktioniert die Kommunikation etwas direkter. Er mag es, abseits der Touristenströme zu reisen und empfiehlt mir deshalb einen Abstecher nach Borsh. Den Rest der albanischen Riviera meide er. Alles sei völlig überbaut und es wimmle nur so von Touristen.
Gewitter am Llogara-Nationalpark
Die Fahrt über den Pass an die albanische Riviera ist eine Augenweide. Die Strasse schmiegt sich in engen Kurven durch dichte Wälder den Berg hoch und wieder runter. Der Llogara-Nationalpark auf dem Gipfel scheint mir einen Besuch wert. Doch es regnet in Strömen und ich will ans Meer. Als ich fünf Minuten später ein erstes Mal an einem Aussichtspunkt die albanische Riviera bestaune, ist die Gewitterwolke am Pass hinter mir noch gut zu sehen. Doch von nun an scheint die Sonne. Ich habe mir den Rat des Kosovaren zu Herzen genommen und fahre an Dhermï und Himarë vorbei nach Borsh - dem einzigen Dorf an der albanischen Riviera mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung. Kurz vor der Küste ist die geteerte Strasse zu Ende und ein Schotterweg führt am längsten Strand Albaniens entlang.
Melancholie und Müll am Traum-Strand
Mitte September herrscht bereits eine seltsam melancholische Aufbruchsstimmung. Die Hauptsaison ist vorbei. Hunderte von verwaisten Sonnenliegen reihen sich vor den wenigen noch offenen Restaurants und Bars aneinander. Dazwischen immer wieder Abschnitte, wo der kilometerlange Strand noch nicht von Menschenhand verunstaltet wurde. Das beruhigende Rauschen der Wellen, die aus dem türkis-blauen Meer auf das Land fallen, wird vereinzelt vom tosenden Lärm aus den Boxen einer der wenigen noch belebten Strandbars durchbrochen. Einige der Übergebliebene räumen ihre Sachen zusammen, verbarrikadieren die Gebäude und umhüllen sie mit Draht und Zäunen.
Der Müll sticht mir als erstes ins Auge. Während direkt am Strand alle paar Meter Plastikbeutel und -flaschen, Zigarettenstummel und andere Resten verbrauchter Konsumgüter rumliegen, trüben weiter hinten vereinzelte verrostete Abfallcontainer die Strandidylle. Frei umherstreunende Pferde und Hunde reissen die Abfallresten aus den Behältern und der Wind sorgt für den Rest. Albaniens Pferde erinnern mich an Indiens Kühe.
Ein Ort der Ruhe und Geborgenheit
Etwa hundert Meter vom Strand entfernt begrüsst Luiza, eine stämmige Frau gehobenen Alters ihre Gäste. Sie ist die einzige, die im nach ihr benannten Guest House englisch spricht. Sie schmeisst den Laden, kocht und putzt zusammen mit ihrer Schwester und einer weiteren Angestellten, während sich ihr Mann um den Umschwung kümmert: Hühner, Ziegen und den Garten mit Trauben, Auberginen, Zitronen und vielen weiteren Nutzpflanzen aller Art. Noch weiss ich nicht, dass ich die nächsten Wochen an der albanischen Riviera vergebens nach einem ähnlich heimelig-gemütlichen Ort suchen würde. Von meiner Terrasse beobachte ich jeden Abend, wie die Sonne mit ihren letzten Strahlen die umliegenden Hügel in kitschigen Farben erblühen lässt, bevor sie ins Meer eintaucht.
Der Arbeitsplatz eines “digitalen Nomaden”.
Ein einsames Fischerboot im Sonnenuntergang vor Borsh.
“No, this is us!”
Die Hausmannskost von Luiza, die mir jeden Wunsch von den Lippen abliest, die Arbeit auf einer Terrasse, welche jeden Digital Nomad vor Neid erblassen lässt, der Stand und die riesigen Olivenhaine dahinter – in wenigen Tagen habe ich Borsh ins Herz geschlossen.
Nur die Arbeit, die ich mitschleppe, will kein Ende nehmen. Mein Laptop als Tor zu einer anderen, alten, stressigen Welt. Die Projekte, die ich alle abschliessen muss, lasten wie ein Schatten über meinem Bedürfnis, mich vollständig auf die albanische Kultur, die Menschen und die Landschaft einzulassen. Doch wer hat das Recht, sich zu beschweren, während er sich morgens und abends im Meer erfrischt, Trauben und Aprikosen aus dem Garten nascht, rund um die Uhr bewirtet wird und zwischendurch Ausflüge an die umliegenden Strände, zu den Ruinen, Gaststätten und Dörfern der Umgebung macht?
Als ich eines Abends etwas weiter als sonst am Strand entlang flaniere, treffe ich am südlichen Ende der Bucht auf eine etwas in die Jahre gekommene Bar, die jedoch sehr sympathisch wirkt. Hinter dem Tresen, ein junges Pärchen mit Kleinkind. Für mein Verlangen nach einem kühlen Bier hat der Zapfhahn jedoch nur ein lautes Zischen und viel Schaum übrig. Im Kühlschrank nebenan entdecke ich neben einzelnen Cola Dosen und ein paar Flaschen Wasser ein einzelnes Corona. “This is us!”, meint die Frau zu mir in gebrochenem Englisch. “No problem”, entgegne ich ihr und will mich bereits auf den Weg machen, als sie den Kühlschrank öffnet, die Flasche rausnimmt, mit Salz und Limette dekoriert und auf die Bar stellt. Selten habe ich mich so über ein Bier gefreut, setze mich mit ihm an den menschenleeren Strand und geniesse die Aussicht. Als ich zwanzig Minuten später an die Bar zurückkehre, um das Bier zu bezahlen, weigert sie sich freundlich aber bestimmt, mein Geld anzunehmen: “No, this is us!”.
Hier geht es weiter nach Dhermï. In der Party-Stadt der albanischen Riviera versucht eine Gruppe aus Wien, einen nachhaltigen Eindruck zu hinterlassen.
*Das Misstrauen der Bevölkerung bezüglich staatlicher Massnahmen lässt sich wohl auch mit der Erfahrung jahrelanger diktatorischer Herrschaft erklären, meint ein Freund aus Rumänien, der in seinem Land eine ähnlich ablehnenden Haltung gegenüber Corona-Massnahmen oder Vakzinen beobachtet. Diesen Erklärungsansatz teilt auch die Journalistin Alice Taylor von Exit.al in ihrem Artikel “Why Europe’s East does not trust the covid-19-vaccine”.
Empfohlene Unterkünfte und Restaurants
Das Guest House Luiza* in Borsh zählt zu meinen liebsten Unterkünften an der gesamten albanischen Riviera. Luiza und ihre Schwester kochen auch hervorragend.
Das Restaurant Veranda in Qeparo steht für griechische und albanische Spezialitäten aller erster Güte:
Gipos’ Place ist ein kleines, aber gemütliches Apartment oberhalb von Borsch auf einem Bio-Bauernhof.
Weiterführende Infos
Deutschlandfunk (17.10.2019): Albaniens Müllproblem - Sauberer werden für Europa
* Böse Zungen behaupten, Booking.com verlange von den Vermieter*innen im Albanien um die 25% Kommission. Oft ist es jedoch schwierig, eine andere Kontaktmöglichkeit zu finden. Ich habe gute Erfahrungen damit gemacht, die erste Nacht über Booking.com zu buchen und danach, wenns gefällt, direkt vor Ort zu verlängern - auch weil in der Nebensaison manche Hotels oder Guesthouses bereits geschlossen sind.