Über viele Jahrhunderte lebten sie weitgehend unberührt von hinduistischen oder englischen Einflüssen. Als Adivasi, Ureinwohner Indiens stehen sie ausserhalb des Kastensystems und leben Traditionen, Bräuche und Glaubensvorstellungen, die sich stark von den hinduistischen unterscheiden. Im Dezember 2013 begleitete ich die Aktivistin Shoba Tivari in ein abgelegenes Baiga-Dorf namens Ranjara im Norden Indiens.

Ein Baiga beim Trocknen der Ernte

Wir fahren durch Wälder und Täler, passieren Dörfer, Hirten mit ihren Kuh- und Ziegenherden und kämpfen uns über Stock und Stein. Die Handyverbindung ist seit etwa einer Stunde abgebrochen, als der Fahrer unverzüglich bremst. Vor uns hat ein Bach eine tiefe Schneise in die Strasse geschnitten. Der Fahrer wird erst am späten Nachmittag den Mut fassen, weiter voranzuschreiten. Deshalb nehmen wir die letzten Kilometer nach Ranjara zu Fuss in Angriff. Das Baiga-Dorf liegt in den Hügeln des Dindori District von Madhya Pradesh, im Herzen Indiens. Die einzigen motorisierten Fahrzeuge, die den Weg hierhin schaffen, sind 4x4 und Motorräder. Doch in Ranjara sieht man beides nur selten. Einmal taucht ein Mitarbeiter des Forest Departments auf, der mit seinem Motorrad durch das Dorf düst, ein anders Mall ist es ein Geschäftsmann aus der Region, der mit seinem Gefährt das Dorf besucht. Manche Baigas, die es sich leisten können, benutzen Fahrräder, den meisten bleibt nur der mühselige Weg zu Fuss.

Auf dem Weg ins Dorf treffen wir viele Baiga-Frauen an, die schwer beladen sind mit Reisssäcken und Salz. Die Verheirateter unter ihnen tragen Tätowierungen an Kopf, Händen und Füssen. Das Tätowieren ist ein integraler Bestandteil ihrer Kultur wird von der Mutter auf die Kinder übertragen.

Im Nachbardorf werden an diesem Tag Essensrationen verteilt. Die Regierung von Madhya Pradesh versorgt die Glücklichen, die das Food-Programm erreicht, mit dem Allernötigsten. Es ergänzt die weitgehend auf Selbstversorgung ausgelegte Landwirtschaft der Baigas. Lange Zeit betrieben sie eine eigene Form der Brandrodung, Bewar. Dabei werden Bäume auf den Abhängen mit der Axt geschlagen, um auf der durch Brandrodung geschaffenen Freifläche Anbau zu betreiben. Heute wird Bewar nur noch vereinzelt betrieben. Viele Baigas bearbeiten ihre Anbauflächen nun mit einem Holzpflug. Vereinzelt verkaufen sie ihre Produkte auf den regionalen Märkten. Oft ist dabei jedoch ein Mittelsmann involviert, der seinen Anteil daran verdient.

Neben der Landwirtschaft ist der Wald die wichtigste Lebensgrundlage des Stammes. Die Bäume sind den Baigas heilig. Als im Jahr 2012 Behörden nach ihren Angaben “kranke Bäume” fällen wollten, verteidigten die Ureinwohner laut der Zeitung Times Of India ihre “Gottheiten” mit Pfeil und Bogen. Die Baigas sammeln aber auch Feuerholz, Kräuter und andere Produkte des Waldes wie Honig oder Bambus. Auch das führte in der Vergangenheit oft zu Konflikten mit dem Forest Department. „Sie verlangten von uns Geld, Mahua (selbstgebrannter Schnapps der Baigas) oder andere Materialien“, erklärt Lalla Singh, Ekta Parishad-Aktivist und Mitglied des Gram Panchayat (lokale Dorfregierung). Wenn sie nicht bezahlen konnten, seien sie zu Sklavenarbeit gezwungen worden. „Im September 2004 haben Behörden des Forest Department unsere Ernte verbrannt“, berichtet der Aktivist. Nach diesem Zwischenfall setzte sich die Community mit der Unterstützung von Ekta Parishad gegen die Ungerechtigkeiten zur Wehr. Der Kampf weitete sich vom „District Level“ auf die Staatsebene aus. Sie seien bis vor Gericht gezogen, erzählt der Aktivist, worauf das Forest Department versprochen habe, Wiedergutmachung zu leisten. Das Versprechen wurde nie gehalten.

Im Jahr 2007 führte Janadesh 25 000 Landlose von Gwalior nach Dehli, was im Januar 2008 zur Verabschiedung des Forest Rights Acts führte. Doch laut Lalla Singh wurden die Baigas weiterhin von den Behörden daran gehindert, Waldprodukte und Feuerholz zu sammeln. Trotzdem habe der Marsch zu einer merklichen Verbesserung der Lage im Dorf geführt. Zwischen 2008 und 2013 haben 54 Familien im Dorf Landtitel erhalten. Laut Shoba Tiwari, die seit 12 Jahren in diesem Gebiet als Ekta Parishad Aktivistin im Einsatz steht, handelt es sich um 1024 Acre Land, was etwas mehr als 4 Mio. Quadratmetern entspricht. Die Landtitel lauten auf beide Namen, so genannte Joint Pattas. Sie sind ein Versuch, die Rolle der Frau zu stärken, die sich durch frühere Landtitel, die lediglich auf den Namen des Mannes ausgestellt wurden, mit einer starken Abhängigkeit konfrontiert sahen.

In Bezug auf die Waldnutzung hat erst der grosse Marsch der Landlosen, Jan Satyagraha die Situation in Ranjara nachhaltig verändert. Laut Lalla Singh erlaubte das Forest Department den Dorfbewohnern fortan, im Wald Feuerholz zu sammeln. Der Respekt von Seiten der Behörden gegenüber den Anliegen der Adivasis habe spürbar zugenommen. Der Aufmarsch von 100 000 Landlosen und die einhergehende Berichterstattung weit über die indischen Grenzen hinaus hat auch auf dieser Ebene Wirkung gezeigt.  

Gibt es hier im Dorf tatsächlich Elektrizität?“, frage ich ungläubig einen Dorfbewohner, als ich einen Strommaster entdecke.  Als die Regierung diesen Masten in Betrieb nahm, hätte das Dorf für 3 Monate Licht gehabt, erklärt er mir. Dann sei die Verbindung abgebrochen. Niemand habe es seither repariert. Als ich nachhake, um zu fragen, wie lange das her sei,  denkt er kurz nach und zeigt auf ein kleines Kind. Er antwortet mit einem Lächeln:  „Als ich so alt war wie er hier. Das ist 17 Jahre her.“

Laut Lalla Singh ist Ranjara heute weitgehend selbstversorgend. Dies führte zu einer starken Reduktion der Migration in die Städte. Die einzelnen Leute, die noch in die Städte ziehen, täten dies hauptsächlich aus Studiengründen. Trotz allen Errungenschaften und Verbesserungen ist Lalla Singh noch nicht glücklich mit den Verhältnissen: „Das angeeignete Land ist zwar gut und recht, doch ist es immer noch ein grosser Schritt, bis die ganze Community ihr eigenes Stück Land hat“. Die grösste Gefahr für die Zukunft sieht der Aktivist im geplanten Korridor eines neuen Natur-Reservats zum Schutz der Tiger, von dem er aus der Zeitung erfahren habe. Ob dann den Baigas erneut die Nutzung untersagt wird, steht in den Sternen. Sie würden ein weiteres Mal eines Teils ihrer Lebensgrundlage beraubt. Der lange Kampf der Baigas geht weiter.*

*Ich habe diesen Text erstmals im Februar 2014 in englischer Sprache unter einem Pseudonym in einem Newsletter von Ekta Parishad veröffentlicht. Seither hatte ich keinen Kontakt mehr zu den Baigas in Ranjara. Eigentlich war zum Thema ein Foto-Buch-Projekt geplant, das jedoch leider nie ein Ende gefunden hat. Es steht jedoch auf meiner imaginären To-Do-Liste, ins Dorf zurückzukehren, um den Menschen die Fotos zu übergeben, die ich damals gemacht habe und darüber - in welcher Form auch immer - zu berichten, wie ihr Kampf und Landrechte weiterging.