Wir fahren durch Wälder und Täler, passieren Adivasi-Dörfer, Hirten mit ihren Kuh- und Ziegenherden, durchqueren Bäche und kämpfen uns über Stock und Stein. Die Handyverbindung ist seit etwa einer Stunde abgebrochen, als der Fahrer unverzüglich abbremst. Vor uns hat ein Bach eine tiefe Schneise in die Strasse gefressen. Der Fahrer wird erst am späten Nachmittag den Mut fassen, weiter voranzuschreiten. Die restlichen Kilometer gehen wir deshalb zu Fuss nach Ranjara. Das Baiga-Dorf liegt in den Hügeln des Dindori District von Madhya Pradesh, im Herzen Indiens. Die einzigen motorisierten Fahrzeuge, die den Weg hierhin schaffen sind  4x4 oder Motorräder. Doch in Ranjara sieht man beides nur selten. Einmal kriegen wir einen Mitarbeiter des Forest Departments zu sehen, der mit seinem Motorrad durch das Dorf rast, einmal ist es ein Geschäftsmann aus der Region, der mit seinem Gefährt das Dorf besucht. Manche Baigas, die es sich leisten können, benutzen Fahrräder, den meisten bleibt nur der mühselige Weg zu Fuss.

Auf dem Weg ins Dorf treffen wir viele Adivasis an, die schwer beladen sind mit Reisssäcken und Salz. Im Nachbardorf werden an diesem Tag Essensrationen verteilt. Die Regierung von Madhya Pradesh versorgt die Glücklichen, die das Food-Programm erreicht, mit dem Allernötigsten. Es ergänzt die weitgehend auf Selbstversorgung ausgelegte Landwirtschaft der Baigas. Vereinzelt verkaufen sie ihre Produkte auf den regionalen Märkten. Oft ist ein Mittelsmann involviert, der seinen Teil daran verdient. Neben der Landwirtschaft ist der Wald die wichtigste Lebensgrundlage des Stammes. Die Baigas sammeln Feuerholz, Kräuter und andere Produkte des Waldes wie Honig oder Bambus. Dies führte in der Vergangenheit oft zu Konflikten mit den Behörden des Forest Departments, welche für den Schutz des Waldes zuständig sind. „Sie verlangten von uns Geld, Mahua (selbstgebrannter Schnapps der Baigas) oder andere Materialien“, erklärt Lalla Singh, Ekta Parishad-Aktivist und Mitglied des Gram Panchayat (lokale Dorfregierung). Wenn sie nicht bezahlen konnten, seien sie zu Sklavenarbeit gezwungen worden. „Am 25. September 2004 haben Behörden des Forest Department unsere Ernte verbrannt“, berichtet der Aktivist. Nach diesem Zwischenfall setzte sich die Community mit der Unterstützung von Ekta Parishad gegen die Ungerechtigkeit zur Wehr. Der Kampf weitete sich vom „District Level“  auf die Staatsebene aus. Sie seien bis vor Gericht gezogen, erzählt der Aktivist, worauf das Forest Department versprochen habe, Wiedergutmachung zu leisten. Das  Versprechen wurde nie gehalten.

Im Jahr 2007 führte Janadesh 25 000 Landlose von Gwalior nach Dehli, was im Januar 2008 zur Anwendung des Forest Rights Acts führte. Doch laut Lalla Singh wurden die Baigas weiterhin daran gehindert, Waldprodukte und Feuerholz zu sammeln. Trotzdem führte der Marsch zu einer Verbesserung der Lage im Dorf. Zwischen 2008 und 2013 hätten 54 Familien im Dorf Landtitel erhalten. Laut Shoba Tiwari, die seit 12 Jahren in diesem Gebiet als Ekta Parishad Aktivistin im Einsatz steht, handelt es sich um 1024 Acre Land, was etwas mehr als 4 Mio. Quadratmetern entspricht. Die Landtitel lauten auf beide Namen, so genannte Joint Pattas. Sie sind ein Versuch, die Rolle der Frau zu stärken, die sich durch frühere Landtitel, die auf den Namen des Mannes ausgestellt wurden, stark benachteiligt sahen.

In Bezug auf die Waldnutzung hat erst der grosse Marsch der Landlosen, Jan Satyagraha die Situation in Ranjara nachhaltig verändert. Laut Lalla Singh erlaubte das Forest Department den Dorfbewohnernfortan, im Wald Feuerholz zu sammeln. Der Respekt von Seiten der Behörden gegenüber den Anliegen der Adivasis hat spürbar zugenommen. Der Aufmarsch von 100 000 Landlosen und die einhergehende Berichterstattung weit über die indischen Grenzen hinaus hat auch auf dieser Ebene Wirkung gezeigt.  

Gibt es hier im Dorf tatsächlich Elektrizität?“, frage ich ungläubig einen Dorfbewohner, als ich einen Strommaster entdecke.  Als die Regierung diesen Masten erstellt habe, hätte das Dorf für 3 Monate Licht gehabt, erklärt er mir. Dann sei die Verbindung abgebrochen. Niemand habe es seither repariert. Als ich nachhake, um zu fragen, wie lange das her sei,  denkt er kurz nach und zeigt auf ein kleines Kind. Er antwortet mit einem Lächeln:  „Als ich so alt war wie er hier. Das ist 17 Jahre her.“

Laut Lalla Singh ist Ranjara heute weitgehend selbstversorgend. Dies führte zu einer starken Reduktion der Migration in die Städte. Die einzelnen Leute, die noch in die Städte ziehen, täten dies hauptsächlich aus Studiengründen; eine erfreuliche Entwicklung. Trotz allen Errungenschaften und Verbesserungen ist Lalla Singh noch nicht glücklich mit den Verhältnissen: „Das angeeignete Land ist zwar gut und recht, doch ist es immer noch ein grosser Schritt, bis die ganze Community ihr eigenes Stück Land hat“. Die grösste Gefahr für die Zukunft sieht der Aktivist im geplanten Korridor eines neuen Reservats, von dem er aus der Zeitung erfahren habe. Der lange Kampf der Baigas um ein Leben in Würde geht weiter.


Die Baigas

Die Baigas sind so genannte Adivasis, Ureinwohner Indiens. Durch die indische Verfassung werden sie als Scheduled Tribe bezeichnet und geschützt. Sie stehen ausserhalb des Kastensystems und haben ihren eigene Glauben und eine eigene Kultur. Über Jahrhunderte lebten sie weitgehend unberührt von hinduistischen und englischen Einflüssen in den Bundesstaaten Madhya Pradesh, Uttar Pradesh, Chhattisgarh und Jharkhand.  

Auffallend sind die Tätowierungen verheirateter Frauen an Kopf, Händen und Füssen. Das Tätowieren ist ein integraler Bestandteil des Baiga-Lifestyle und dessen Kunst wird von der Mutter auf die Kinder übertragen.

Ihren Lebensunterhalt generieren die Baigas durch Landwirtschaft und das Sammeln von Produkten wie Holz, Früchten, Kräutern, Wurzeln oder Honig aus dem Wald. Jagen und Fischen sind weitere Nahrungsquellen. Lange Zeit betrieben die Baigas eine eigene Form der Brandrodung, Bewar. Dabei werden Bäume auf den Abhängen mit der Axt geschlagen, um auf der durch Brandrodung geschaffenen Freifläche Anbau zu betreiben. Heute wird Bewar nur noch vereinzelt betrieben. Viele Baigas bearbeiten heute ihre Anbauflächen mit einem Holzpflug.