Surreale Odyssee durch Delhi
Es ist halb sechs Uhr morgens und das Thermometer zeigt bereits 26 Grad. Regen liegt in der Luft. Am Flughafen von New Delhi herrscht ein buntes Treiben. Erschöpfte und gestresste Touristen aus aller Welt treffen auf wortkarge indische Beamte, die missmutig und gemächlich die Pässe der Reisenden stempeln. Mit nur zwei Stunden Schlaf und den Nachwirkungen von zwei durchzechten, emotionalen Verabschiedungsnächten in den Beinen schleppe ich mich Richtung Ausgang. In Gedanken male ich mir ein Bild von meinem bevorstehenden halbjährigen Einsatz im Dienste von Ekta Parishad, einer Organisation, die sich für die Rechte der Landlosen in einem mir noch völlig unbekannten Land einsetzt. Der Schweiss läuft mir über die Stirn, T-Shirt und Hose kleben auf der Haut. Eigentlich sollte ich am Flughafen abgeholt werden, doch keiner der Menschen, die mit einem Schild in der Hand erwartungsvoll am Eingang stehen, scheint auf mich zu warten. Ich muss mich alleine durchschlagen.
Etliche übermotivierte Taxifahrer stürzen sich auf mich, als ich mit zwei Rucksäcken bepackt die Ausgangshalle betrete. Mit der Halbwahrheit, dass ich von einem Freund abgeholt werde, versuche ich sie abzuwimmeln. Normalerweise bevorzuge ich, die Leute selber anzusprechen, wenn ich etwas suche. Die Gefahr über Ohr gehauen zu werden, lässt sich durch diese Binsenweisheit erheblich reduzieren. Trotzdem lasse ich mich nach einiger Zeit auf die Verhandlungen mit einem Taxifahrer ein, der mich in die Stadt fahren will. Ich sage ihm, dass ich nicht mehr als 250 Rupien bezahlen will, um an die von mir fünf Minuten vorher eilig aus dem Reiseführer herausnotierte Adresse zu gelangen. Nach einem kurzen aber erfolglosen Versuch, den Preis in die Höhe zu treiben, willigt er etwas ernüchtert ein.
Ein Mann mit Schnurrbart und Krawatte nähert sich, während ich das Gepäck verstaue und mich ins Taxi setze. Er scheint der Chef des Taxifahrers zu sein und weist mich mit einem freundlichen Lächeln darauf hin, dass einige Teile der Stadt wegen des anstehenden Unabhängigkeitstags von der Polizei abgeriegelt worden seien. Zufälligerweise befindet sich die von mir notierte Hoteladresse in einem dieser Gebiete. Ich glaube ihm immer noch kein Wort, als er mir wenig später einen Polizeiausweis vor die Nase hält. Er bittet den Taxifahrer, mich zu einem Touristenbüro zu fahren, damit ich mich von einer unabhängigen Stelle selbst über die Lage in der Stadt informieren könne. Um der Situation schnellst möglichst entfliehen zu können, willige ich ein.
Das Taxi fährt bereits einige Minuten in Richtung Innenstadt, als ich den Taxifahrer bitte, den Plan zu ändern und mich zur New Delhi Railway Station zu fahren. Sie liegt in die Nähe des notierten Hotels. Er weigert sich. Mit steinerner Miene und fadenscheinigen Gründen versucht er mir klar zu machen, dass er dafür mindestens 1800 Rupien verlangen müsse. Wohl wissend, dass die Bahnstation höchstens 10 Minuten Fussweg vom Hotel entfernt liegt, bitte ich ihn nach einigen vergeblichen Überzeugungs-Versuchen, mich für den gleichen Preis dorthin zu chauffieren, auf den altbekannten Deal zurückzukommen.
Im Tourist Office erwarten mich bereits zwei hilfsbereite Herren mittleren Alters, die mir erklären, dass die Geschichte des Taxifahrers stimme und es zur Zeit äusserst schwierig sei, in Delhi wegen des Unabhängigkeitstages eine günstige Unterkunft zu finden. Es gebe nur zwei Möglichkeiten; entweder ich entscheide mich für ein teures Hotel, dass mich mindestens 100 Dollar koste, oder ich würde die Stadt verlassen. Ich entscheide mich, die Anweisungen zu ignorieren und das Touristenbüro zu verlassen. Den wartenden Taxifahrer frage ich noch einmal, ob er mich zur naheliegenden New Delhi Railway Station bringen kann, wo ich den Weg zum Hotel zu Fuss auf mich nehmen will. Als er weitere 250 Rupien verlangt, wird es mir zu bunt und ich bitte ihn, mich aussteigen zu lassen.
Ich entscheide mich, den mir vertrauenswürdig scheinenden Motor-Rikshaw-Fahrer auf der anderen Strassenseite anzusprechen. Er willigt ein, mich für 20 Rupien zum Bahnhof zu bringen. Erleichtert steige ich ein. Nach einem freundlichen aber kurzen Gespräch erreichen wir die New Delhi Railway Station. Er fragt noch einmal nach, ob er mich nicht direkt zum Hotel fahren könne, worauf ich müde von all den Strapazen einwillige und ihm die Adresse überreiche. Rauchend und telefonierend fährt er mich sicher durch den wilden Fahrzeug-Dschungel. Die ominpräsenten Polizei-Absperrgitter am Strassenrand und eine singende und tanzende Meute mit Transparenten bewaffneter Demonstranten scheinen die Geschichte von abgeriegelten Stadtteilen zu bestätigen. Als wir in die Strasse des Hotels einbiegen, steht mitten auf der Strasse ein Mann, der uns schroff darauf hinweist, dass in diesem Gebiet keine Touristen erlaubt seien und wir die Strasse unverzüglich verlassen sollen. Etwas skeptisch und verwirrt willige ich ein, dass mich der Rikscha-Fahrer zur Travel Agency eines Freundes bringt, der mich beraten werde.
Der fette, schwitzende Mann, der mir im Ledersessel gegenüber sitzt, zählt einige 100 Dollar-Noten, bevor wir ins Gespräch kommen. In seiner Anzugshose und dem rosa Hemd wirkt er wie der unbeholfene Cousin eines Mafiabosses aus einem Gangsterfilm. Auf dem Boden tummeln sich Kakerlaken und Ameisen. Er bietet mir einen Chai und den Plan an, mir einen Fahrer zu organisieren, der mich nach Agra bringt, wo er mir eine günstige Übernachtung organisieren und mir ein Zugticket nach Bhopal besorgen werde. Meinen Zweifeln begegnet er mit der Aufforderung, ich könne mich ja noch einmal telefonisch in einem weiteren Hotel erkundigen, ob sie Betten frei hätten. Aus dem Reiseführer suche ich mir die Telefonnummer eines günstigen Gasthauses aus. Er wählt die Nummer, erkundigt sich, ob er mit der Rezeption von Ringos Guesthouse verbunden sei und übergibt mir den Hörer. Der Mann am anderen Ende der Leitung weist mich in perfektem Englisch darauf hin, dass das Hotel aufgrund des Unabhängigkeitstages ausgebucht sei. Auf die Frage, ob er mir ein anderes Hotel empfehlen könne, antwortet er, dass dies so kurzfristig nicht möglich sei und nur noch teure Hotels zur Verfügung stünden. Konsterniert gebe ich den Hörer zurück und frage den fetten, schwitzenden Mann nach dem Preis seines Plans, mich über Agra nach Bhopal zu bringen. Er zeigt mir auf seinem Rechner 23 000 Rupien an, was beinahe 400 Franken entspricht. Freundlich aber bestimmt weise ich ihn darauf hin, dass ich zuerst noch eine Nacht in einem teuren Hotel darüber schlafen möchte, da ich ja eigentlich jemanden in Delhi treffen sollte.
Er gibt dem Rikshaw-Fahrer die Anweisung, wo er mich hinbringen soll und wir fahren los. Wiederum bitte ich unterwegs den Fahrer, den Plan zu ändern und mich zum Sunny Guesthouse zu fahren, welches nur wenige Meter von meinem ursprünglichen Ziel entfernt liegt. Ich will mich selbst vor Ort erkundigen, ob noch freie Betten zur Verfügung stehen. Nach einigen erfolglosen Versuchen, mich davon zu überzeugen, dort anzurufen, fährt er mich rauchend und telefonierend zum Sunny Guesthouse.
Als wir vor Sunnys Guesthouse anhalten, wartet im Eingangsbereich bereits ein Mann auf uns. Energisch ruft er mir zu, dass auch dieses Guesthouse keine Betten mehr anbiete. Ich bitte ihn, zur Seite zu treten, da ich mich selbst drinnen erkundigen möchte. „No, don’t go there!“, befiehlt er mir grob und versucht mich mit aggressiv -unkoordiniertem Gefuchtel davon abzuhalten, das Hotel zu betreten. Ich schiebe ihn zur Seite, bitte den Rikshaw-Fahrer, draussen zu warten und schreite zielstrebig die Treppe hinauf zur Rezeption.
Mit breitem Grinsen und Handschlag begrüsst mich dort der freundliche Inhaber des Hotels und fragt, ob ich ein Zimmer brauche. Ungläubig bejahe ich und er zeigt mir die verschiedenen freien Zimmer. Beim Einchecken erzähle ich ihm in einer Kurzversion, was mir in den drei Stunden zwischen Flughafen und Hotel passiert ist, worauf er mir lachend eine Visitenkarte des Hotels in die Hand drückt. Unter dem Namen und der Adresse des Hotels steht in dicken Lettern:
Als ich das Hotel wenig später verlasse, um den zum Draussen-Warten verdonnerten Motor-Rikshaw-Fahrer seine 20 Rupien zu bezahlen, fehlt von ihm jede Spur. Auch vom Türsteher ist weit und breit nichts mehr zu sehen.